Gekündigt – ein Glücksfall für mich und das Jobcenter
Ich bin 50+, weiblich, Mutter – und habe beste Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das trifft sich gut, denn mein bisheriger Job wurde gestrichen. Ein Glücksfall.
Das ist mein Ernst.
Zur Vorgeschichte: Es war ein Fusstritt mit kurzem Anlauf. Im September 2016 wurde überraschend angekündigt, dass unsere Redaktion geschlossen wird.
Nicht weil unsere Redaktion unrentabel arbeitete – es geht schließlich um das reichweitenstärkste Online-Portal in Deutschland, um t-online.de, sondern weil man an den Hotspot Berlin zieht und dort alles neuer, besser, hipper ist. Kurzum: Man brauchte uns – eine eingespielte, erfahrene Redaktion nicht mehr. Eine Transfergesellschaft wurde unser neuer Arbeitgeber.
Ein Fusstritt, viele Geschichten – ein Happy End mit Fortsetzung
Und von hier an gibt es viele Geschichten zu erzählen. Davon, dass ich mich frage, wie viele Menschen in die Selbständigkeit gequatscht werden, einfach weil es Existenzgründerdarlehen gibt. Oder weil Arbeitsagenturberater denken, eine 50-jährige Mami ist da gut aufgehoben. Davon, wie wichtig in dieser Situation gute Existenzgründerberatung ist und in manchem das Gründer-Gen erst weckt.

Wie viele Yogastudios braucht Deutschland?
Ich versuche manchmal abzuschätzen, wie viele Yoga- oder Massagestudios, Heilpraktiker, Therapeuten oder Nähcafes ich eigentlich besuchen kann?
Geschichten davon, welche Talente in meinen Kollegen schlummern und originelle Ideen das Tageslicht erblicken. Davon, wie ich mich in den verschiedenen Vorstellungsgesprächen gefühlt habe, was ich über Führungskräfte gelernt habe. Über mich selbst.
Anekdoten, wie traditionelle Rollenmuster auch mal ein Vorteil sein können, aber oft zum Fluch werden. Oder wie meine (erwachsenen) Kinder das sehen, dass ich jetzt wieder Vollzeit arbeite. Eine Kostprobe aus dem Kindermund? Tochter: “Jetzt kann die Mama endlich eine Rabenmutter werden” – Sohn: “Dann muss sie einen Raben adoptieren”.
Darüber, wie komfortabel deutsches Arbeitsrecht in meinem Fall ist und wie viel Kopfschütteln das bei Familie und Freunden in den USA und Großbritannien auslöst. Eine gut ausgestattete Transfergesellschaft ist komfortabel. Man kann warten, ob der Traumjob oder zumindest der, bei dem die meisten Kriterien stimmen, um die Ecke kommt. Wenn man Geduld und gute Nerven hat.
Darüber, wie viel Spaß Lernen macht, wenn es freiwillig ist und vor allem im fortgeschrittenem Alter zu merken, das Hirn kann’s noch – und zwar besser als beim Vokabeln lernen mit den Kindern.
Davon, wie viel Sorgen sich meine Mutter gemacht hat und wie erleichtert sie war, von dem neuen Job zu hören. Die Verblüffung vieler Freunde über meine Zuversicht. Und die aufrichtige Freude und die Glückwünsche aller, die meine Vorfreude auf den neuen Job teilen.
Über die Aufgeschlossenheit so vieler wichtiger Personen, die ich um ein Gespräch gebeten habe – und die zugehört haben. Und die Verwunderung meines Mannes: “Das hättest du vor 20 Jahren noch nicht gemacht”. Nein, vieles davon hätte ich bis zum September 2016 nicht getan. Das Gefühl, “ich kann nichts verlieren, nur gewinnen”, ist wunderbar.

Die Situation setzt Energien frei – oder lässt in Trauer verfallen. Auch das habe ich an anderen gesehen und zeitweise selbst gespürt. Ich selbst hatte wohl auch dabei Glück und habe die Phasen der Trauer um den Job im Zeitraffer durchlebt und gestärkt überstanden – danke an meine Familie, Freunde, Kollegen, die Personalberater und unser Stammlokal.

Ich hatte Zeit. Zeit nachzudenken, Netflix zu gucken, zu reisen, Bücher zu lesen und Diskussionen über den Berufsstand im Netz zu verfolgen. Meine Medien-Heimat war ja eingestürzt, also muss ich mir eine neue suchen – ich habe sie immer noch nicht gefunden.
Drei Diskussionen im Netz interessieren mich momentan besonders:.
Indiskretion Ehrensache: Wie müssen sich Medien ändern – und wie müssen sich Journalisten ändern?
Spiegel.de: Warum Redaktionen mehr Vielfalt brauchen
Kress.de: Und mit 50 noch einmal alles riskieren

wow!! 56Arbeiten & Leben: “Wenn der Akku leer ist, wird alles ein unglaublicher Kraftakt”
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